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Total überdreht: Instagram-Design als Leitmotiv

Der Salone del Mobile war dieses Jahr wieder mal ein grosses Fest. Ein persönlicher Kommentar zu einer Messe, bei der immer mehr der Bezug zum Wesentlichen verloren geht: gut gemachte Produkte greifbar machen.

von Stephanie Ringel

April 2024. In den letzten Tagen sind viele Berichte zur diesjährigen 62. Mailänder Möbelmesse erschienen. Der Anlass fasziniert länderübergreifend, weil er der grösste seiner Art ist und nicht nur die Einrichtungs- und Baubranche anzieht. Sondern für eine Woche ein grosses Gewebe wird, in dem sich die Hersteller und Händler, die Lifestyle-Industrie, die Kunstwelt, Hochschulen, Modefirmen und die interessierte internationale Öffentlichkeit treffen.

Dann stellen Unternehmen und Kreative vor, woran sie in den letzten Monaten gearbeitet haben. Dieses Jahr besuchten nach Angaben der Messeleitung 361'417 Besucher:innen die Messe, das entspricht einem Plus von 17.1 % im Vergleich zum Vorjahr.
Der grössere, und seit Jahren wachsende Event sind alle Ereignisse, die im Rahmen des Veranstaltungsformats «Milan Design Week» in der Stadt Design zelebrieren. Ihr Zentrum ist das Dreieck zwischen den Metrostationen Moscova – San Babila – und Porta Venezia. Darüber hinaus geht’s von Brera und bis zur Zona Tortona um Design als Wirtschaftskraft und Kulturgut.

Was liegt wohl in der Luft?

Der erste Eindruck ist seit Jahren gleich. Vor den Messetagen breitet sich mit steigender Intensität eine wohlige Vorfreude aus. Angefeuert von einem Tsunami aus Emails, die auf die bevorstehenden Veranstaltungen, Präsentationen, Talks hinweisen. Die persönlichen Gespräche, die in Verabredungen vor Ort münden.
Die Stadt umarmt ihre Gäste von der ersten Minute an mit grosser Geste. Es liegt das in der Luft, was in Social Media Posts als «Dolce farniente» visualisiert wird – im Bild ein Apérol Spritz und Aperitivo-Snacks. Die Sehnsucht nach Mailand ist immer auch die Sehnsucht nach dem konzentrierten Beisammensein. Aber süsses Nichtstun? Wohl eher die kurze Pause zwischendurch, um die müden Füsse von den vielen Kilometern laufen zwischen den Veranstaltungsorten oder auf der Messe auszuruhen – und wer macht das nicht gern stilvoll.

Doch der Rest ist Arbeit. Das Aufsaugen der Eindrücke und die gezielte Recherche. Aktives Schauen. Irritationen folgen. Und diese dann nach und nach einordnen, bis sich ein grösseres Bild ergibt.
Ein Verständnis der aktuellen Lage. Jenseits der Party.
Mein Schlüsselmoment war am Dienstag morgen, 16. April, auf der Messe, am Stand von Flexform. Hellgrauer Boden, weisse Decke, ein langer Gang, rechts und links davon hinter kniehohen Absperrseilen die Produkte. Sofas, Sessel, Beistelltische – Neuheiten und die Möbel aus dem bestehenden Sortiment. Die Besucher:innen drängen sich, um einen Blick auf das zu erhaschen, was dort ausgestellt ist. Wie in einem Museum gilt: Anfassen nicht möglich, bitte Abstand halten.
Auf Nachfrage am Empfang des Messestandes die Information: Testen der neuen Produkte nur für geladene Gäste. Wer das ist, bleibt unkommentiert.

Abstand halten – Distanz zur Menge schaffen

Das Wesen der Messe ist: Produktneuheiten inszenieren und Angebote machen für einen zeitgemässen Lebensstil. Das Wesen ist auch, diese Neuheiten erleben können. Fühlen, Details anschauen, die Form im Hinblick auf die Funktion überprüfen – kurz gesagt: Materialität und Machart verstehen. Das geht nicht, wenn künstliche Grenzen gezogen werden und die Ausstellungsstücke inszeniert sind wie Museumsobjekte.

Ein Einzelfall? Nein. Produkte stehen vermehrt auf Podesten, effektvoll inszeniert für Bilder, die dann hunderttausendfach auf Social Media geteilt werden. Instagram-Design ist das neue Leitmotiv. Es scheint zu reichen, dass es gut aussieht. Ob es sich gut anfühlt, bequem ist oder nützlich bleibt offen. Die Botschaft an den Betrachter ist: Der schöne Anblick reicht aus. So gesehen z.B. bei Kartell, die den Möbeln unter dem Thema «Urban Horizons» eine riesige Bühne gebaut haben.
Auf dem Salone Satellite, dem Messebereich für die jungen Gestalter:innen und Hochschulen, werden Produkte gezeigt, die mehr Objekt als Gebrauchsgegenstand sind. Und denen der innovative Gehalt leider zumeist fehlt. Wo sind die kritischen Entwürfe, die Materialexperimente, die Ideen für eine Wohnwelt von morgen? Es scheint zu reichen, dass die Formen ins Auge stechen. Ein Stuhl-Modell aus Mexiko, zeitgemäss durchdekliniert in verschiedenen Farben und mit herausnehmbarem, individualisierbarem Sitz, ist als Möbel nutzbar aber nicht ergonomisch. Und dennoch wurde es Imagebild in der Ausstellung zu 25 Jahre Salone Satellite in der Trinnale. Die Schau war lange Inkubator für freches Denken, neue Perspektiven und lösungsorientiere Entwürfe. Davon ist nicht viel übrig.

Zwischen Musealisierung und Registrierung

Zur Musealisierung der Möbel kommt die restriktive Einlass-Politik. Jede, jeder muss sich registrieren – und seine Email-Adresse hinterlassen. Das führt zu zum Teil absurd langen Schlangen. Bei Baxter war sie zeitweise dutzende Meter lang.
Dies ist nur zu umgehen, wenn man sich vorab anmeldet. Was wiederum der langjährigen Praxis von Berufsleuten widerspricht, über die Messe zu streifen und zu entdecken. In einen Stand hinein zu schlendern und wieder hinaus, und bei diesen zufällig unzufälligen Wegen Entdeckungen zu machen.
Aus der Messe heraus multipliziert sich der Eindruck in den Präsentationen in der Stadt. Living Divani bezeichnet seinen Showroom als «Living Divani Gallery». Die Leuchtenhersteller platzieren an den Eingangstüren zu ihren Läden an der Via Durini kleine Armeen von Sicherheitsdamen und -herren, bepackt mit Tablet, die den Zustrom der Besucher:innen regulieren und natürlich die Registrierung einfordern.

Traditionell lebt die Neuheitenwoche auch von den vielen aufwändigen Inszenierungen in Innenhöfen, Palazzi, Kirchen, Klöstern und auf der Strasse. Das ist immer bezaubernd, ein Ausflug ins Reich der Fantasie, zum Staunen und Wundern. Dieses Jahr wurde die Inszenierung des tschechischen Leuchtenherstellers Lasvit zur besten Präsentation gekürt. Die Glasbläser zeigten ihr Handwerk am Beispiel von grossformatigen Glasplatten, inszeniert vom Art Director der Marke, und wurden dafür mit dem Community Award «Fuorisalone Award» ausgezeichnet – ausgewählt aus über 1'100 Projekten.

Vieles konnte ich nicht anschauen. Selbst 5 Tage Aufenthalt vor Ort reichen nicht, um einen groben Überblick zu bekommen. Das ist neben zunehmender Musealisierung und verpflichtender Registrierung die dritte wesentliche Beobachtung: Orientierung wird immer schwieriger. Wer sich am effektvollsten zeigt, über den wird gesprochen. Im Gebrause der Informationen schaukeln sich die Akteure hoch.

Verknappung als Argument für Wertigkeit

Hermès, eine Schau die ich seit Jahren selbstverständlich besucht habe, zeigte dieses Jahr einen neuen Loungechair und dazu ein silbernes Halsband von 2002. Objekte aus dem Archiv neben aktuellen Arbeiten in der Sporthalle La Pelota, die wie eine archäologische Stätte hergerichtet war. Das weiss ich, weil eine Kollegin dies in TEC21 berichtet hat. Denn: bei Hermès mussten sich Berufsleute dieses Jahr nicht nur registrieren, sondern auch auf eine Uhrzeit für den Besuch festlegen. An den Publikumstagen nach den Previews war die Menschenmenge vor dem Eingang so gross, dass jeder professionelle Messebesucher gar nicht daran denkt, sich dort einzureihen.

Wozu dient das? Vermutlich, um die fortschreitende Entwicklung hin zu eigenen, elitären Lifestyle-Communities anzuheizen. Nicht nur machen immer mehr Unternehmen immer mehr – entwickeln sich also vom z.B. Polstermöbelspezialisten zum Gesamtanbieter für drinnen und draussen, inkl. Licht und Accessoires. Die Verknappung des Zugangs kitzelt die Neugier und weckt den Wunsch, dabei zu sein. In der Luxusmode und Uhrenbranche ist das längst Alltag – wer kennt nicht die Schlangen vor Louis Vuitton oder Rolex, Wartelisten für Handtaschen oder limitierte Kollektionen.

Von Berufskollegen, Hochschulvertreter:innen, Designer:innen höre ich: «Mir ist dieses Jahr nichts Besonderes geblieben». Diese Einschätzung deckt sich mit meinem Gefühl, dass in diesem grossen Sog von neu, gross, viel, dolce farniente und Social Media Rausch, in dem Besucher:innen Objekte im Vorbeigehen filmen, etwas Zentrales verloren geht. Nach meinem Verständnis sind es die Lösungen für die Themen unserer Zeit. Alles andere ist Konsum und Dekoration. Da völliger Verzicht nicht die Lösung sein kann, könnte man die Frage stellen: wo entsteht Notwendiges, mit guter Funktion und das ressourcenschonend? Wo liefern junge Gestalter:innen und Hochschulen Antworten? Es braucht kluge Konzepte. Das Verständnis für soziale, politische und gesellschaftliche Zusammenhänge, um wirksam zu gestalten.

Vor allem in den kleineren Schauen, hier und da über die ganze Stadt verteilt, zeigen sich interessante Projekte, die Bauen und Einrichten, Dekorieren und Gestalten mit neuen Materialien oder alten Materialien in zeitgemässem Kontext präsentieren. Mosca Partners stellte ein Unternehmen vor, das Steine aus Hanf herstellt. Auch einen jungen Unternehmer, der gerade einen alten Steinbruch gekauft hat und dort Marmor bricht – als klassisches, lange zu gebrauchendes Material.

Handwerk scheint weiterhin interessant. Zu dem Thema haben mich einige Schweizer Hersteller angeregt: atelier oï hat für den Steinproduzenten Neutra ein Objekt entwickelt, das Tisch-Bank-Hocker ist, ein monolithisches Teil, das auch in 100 Jahren noch nutzbar und funktional sein kann. Genauso wie die Steinböden in den Eingangsbereichen vieler Stadthäuser in Mailand. Wogg AG präsentierte endlich auf nachvollziehbare Weise, in einer wachsenden Kollektion, welches Potenzial der vom Erfinder Willi Glaeser erdachte Rollfront-Mechanismus aus Aluminium hat. Und Orea Küchen zeigt diesen Rollfrontmechanismus in seinen Anwendungsmöglichkeiten für die Küche. Gut gemacht, unaufgeregt schick präsentiert, mit Partnerfirmen, die die gleiche Entwicklungs- und Produktionskompetenz pflegen.
Nur ein paar hundert Meter weiter als die Schweizer Gruppenausstellung in der Via Solferino 17 zog das Zürcher Textilunternehmen 4spaces ein. 4spaces hat in den letzten Jahren eine Textilkollektion aufgebaut, die man als Haute Couture fürs Fenster bezeichnen kann. Räume «anziehen» mit aussergewöhnlichen Entwürfen, inhaus designt, in Zürich an der Breitensteinstrasse. Der kleine Raum wollte nichts sein – ausser ein funktionaler Schauraum für die Kollektion.

Genau dies waren am Ende die erfrischenden, und mit Distanz auch die bleibenden Momente: die Orte, wo die Produkte mit ihrem Design konkret sichtbar, verstehbar und ausprobierbar gewesen sind.

Der Rest ist Design-Theater.

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